1768 geboren in Steinlah, Kreis Goslar in Niedersachsen, war Justus Erich Walbaum Autodidakt. Heute würde man ihn wohl als „Selfmademan“ bezeichnen. War er eigentlich in einer Lehre als Kaufmann bei Konditor Grabenhorst in Braunschweig tätig, so eignete er sich das Herstellen der teuren Backformen mit selbst gefertigten Meißeln im Selbststudium an und beschritt damit den Weg zu einer Zukunft, deren Schriftentwicklungen heute noch seinen Namen kennen lassen.
Handwerklich nicht unbegabt, gelangte er von den Pfaden des Formenherstellers zur Steingravur und dem Kupferstich, für welche er seinen bisherigen Beruf aufgab. In den darauffolgenden Jahren fertigte er Gedenkmünzen- und Notenblattvorlagen für eine Metalldruckerei in Braunschweig. Dort kam er schließlich auch mit dem Stempelschnitt in Berührung und setzte sein Hauptaugenmerk von da an auf die Produktion von Matrizen sowie Werkzeuge für den Stempelguss.
Ende des 18. Jahrhunderts erwarb Walbaum schließlich die Schriftgießerei Ernst Wilhelm Kirchners in Goslar und entwarf kurz darauf, um das Jahr 1800, die Walbaum Antiqua und Fraktur. Aufgrund von Unstimmigkeiten mit der Stadt und den Vorzügen der damaligen deutschen Literaturmetropole Weimar, verlegte Walbaum seine Schriftgießerei 1803 in die Nähe des Weimarer Musenhofes, wo er große Erfolge feierte. Im Jahre 1828 übergab Walbaum seine Schriftgießerei seinem Sohn Theodor, der zwei Jahre später infolge eines Unfalles verstarb. Aus gesundheitlichen Gründen verkaufte Walbaum seine Schriftgießerei 1836 an die Firma F.A. Brockhaus in Leipzig. Drei Jahre später verstarb Justus Erich Walbaum am 3. Januar in Weimar.
Walbaums Schriftgießerei wurde 1843 nach Leipzig umquartiert. Von da an verwendete die Brockhaus Buchdruckerei die Walbaum Schriften vornehmlich selbst, bis 1919 die Berthold AG Berlin die Gießerei und den Großteil der Matrizen übernahm und die fast vergessenen Schriften für neue Setzmaschinen, wie die Linotype, aufbereitete. In den 1960er Jahren erweiterte Günter Gerhard Lange, der damalige künstlerische Leiter der Berthold AG, die Walbaum und glich sie für den Fotosatz an. Dabei orientierte er sich weitestgehend an den Originalmatrizen und fügte die Walbaum- Buch sowie die Walbaum Standard für den Mengensatz hinzu.
Entsprechend ihrer Merkmale wird die Walbaum der Epoche des Klassizismus zugeordnet, welche die Jahre von 1770 bis 1830 umfasst und ihren Höhepunkt um das Jahr 1800 erfuhr. Bezeichnend für die Schriftgestaltung der Epoche waren die Schriften französisch-italienischen Ursprungs von den Typografen Firmin Didot und Giambattista Bodoni. Die Didot und die Bodoni galten als Vorreiter dieser Epoche und gaben ihr in vielen Ländern ihren Namen.
Die Schlagworte des Klassizismus‘, Moral, Logik und Vernunft, spiegeln sich in den klaren archaischen Formen der Buchstaben wieder. Man erkennt den Einfluss der Spitzfeder an starken Kontrasten zwischen Haar- und Grundstrichen. Einige Inspirationen, wie der klare Duktus, sind vom Kupferstich abgeleitet. Die Buchstaben der Schrift sind konsequent geometrisch und kontrastreich konzipiert mit einer senkrechten Schattenachse sowie vertikal orientierter Zeichenform. Sachlich, exakt, streng, kühl, elegant und in einer statischen Ruhe eifert die Schriften der klassizistischen Antiqua ihren antiken Vorbildern nach. Dennoch erschweren einige typografische Eigenheiten die Lesbarkeit, z.B. die stark betonte Senkrechte, da zur besseren Augenführung ein erhöhter Zeilenabstand benötigt wird. Aufgrund dessen eignen sich die meisten klassizistischen Schriftarten schlecht für Mengentexte.
Weiterhin erschwerten die hohen Kontraste Materialauswahl und technische Umsetzung zu Zeiten der Bleilettern. Nicht jedes Papier war geeignet – bei Hochweißem etwa, geschah es schnell, dass dünne Haarstriche bei kleinen Schriftgraden überstrahlt wurden. Die dünnen Serifen ohne Kehlung erwiesen sich zudem als äußert anfällig im Druck und brachen häufig ab. Dennoch wurden die strenge Anmut der Schrift, ihr sauberer, scharfkantiger Charakter und die exakte typografische Anordnung trotz aller Schwierigkeiten hoch geschätzt.
In Deutschland erfuhr die strenge Rationalisierung jedoch einen Dämpfer. Hier setzten sich vornehmlich humanistischere Gedanken durch und beeinflussten neben den technischen Problemen und dem patriotischen Festhalten an der Fraktur die Schriftgestaltung sowie ihre Anwendung. So ist in Walbaums Schrift ganz deutlich der humanistische Einfluss erkenntlich und ihr sparsamer Einsatz für Lesetexte zu Zeiten der klassizistischen Blüte führt zur langsamen Entwöhnung der Fraktur. Aufgrund der Tatsache, dass die klassizistische Antiqua auch als die »Besatzerschrift« galt, hatte es die Walbaum im eigenen Land zunächst relativ schwer und brauchte daher länger, sich durchzusetzen.
Grundlegend reiht sich die Walbaum zwar in die Klasse ihrer Schriftgenossen ein, unterscheidet sich aber auch in gewissen Feinheiten und wird daher als deutsche Interpretation des Klassizismus angesehen. Die Walbaum besitzt im Vergleich zur Didot beispielsweise eine wesentlich geringere Laufweite, weist einen stärkeren Grund- und Haarstrich auf und bietet weniger Kontrast und einen höheren Grauwert, wodurch sie sich eher für Fließtexte eignet. Die fehlende Grundserife beim - b -, der senkrechte Anstrich beim - t -, die Verbindung der Schenkel des - K - und die Überschreitung der Schriftmitte bei Zahlreichen Buchstaben wie beispielsweise dem -f- und -M- sind charakteristisch für die Walbaum.
Hält man die Augen offen, so kann man die Walbaum häufig wiedererkennen. Zum Beispiel dient die Walbaum Fraktur der Berliner Zeitung als Überschrift. Das Museé d’Orsay in Paris hat die Walbaum Buch als Corporate Identity Schrift gewählt und auch auf Filmplakaten wie »Die Fälscher« von Stefan Ruzowitzky und »Söhne« von Volker Koepp wird sie verwendet. Doch auch schon zu früheren Zeiten fanden sich begeisterte Vertreter der Schrift. So zählte Franz Kafka zu den besonderen Liebhabern der Walbaum. Er ließ beispielsweise die Erstausgaben seiner Bücher ausschließlich in der Walbaum drucken. Im großen Font-Ranking Die 100 besten Schriften aller Zeiten belegt die Walbaum als einer der bedeutendsten deutschen Beiträge zum Schriftklassizismus den 17. Platz.