HTWK-Selbsthilfegruppe „geist:reicht“ für psychisch erkrankte Studierende feiert zehnjähriges Bestehen
Zwischen 2005 und 2016 ist die Zahl der psychischen Erkrankungen bei 18- bis 25-Jährigen um 38 Prozent gestiegen, so der Arztreport der Barmer-Krankenkasse 2018. Jedoch bedeutet das nicht, dass auch zwangsläufig mehr Menschen erkranken. Laut Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, suchen sich mehr Menschen Hilfe, Ärzte erkennen Depressionen besser – und es bestehen mehr Hilfsangebote.
Das sah 2010 auch in Leipzig noch ganz anders aus. Martin Trippmacher erinnert sich: „Ich war damals Student in der Abschlussphase und aufgrund mehrerer persönlicher Schicksalsschläge psychisch sehr belastet. Im Hochschulumfeld gab es damals leider kaum hilfreiche Unterstützung.“ Der damalige HTWK-Medientechnik-Student wollte mit anderen Betroffenen Erfahrungen austauschen und gründete die Selbsthilfegruppe „geist:reicht“. Nach dem Prinzip „von Studierenden für Studierende“ trifft sich die Gruppe seit 2012 jede Woche auf dem Campus der HTWK Leipzig, seit 2011 kann sie sich als anerkannte Hochschulgruppe bezeichnen. „Es kommen Studierende aller erdenklichen Studienrichtungen und Hochschulen zu uns. Gerade diese Vielfalt ist sehr wertvoll und bereichernd, wenn es darum geht, voneinander zu lernen und über den Tellerrand des eigenen Studiengangs hinauszuschauen“, berichtet Trippmacher. Die meisten Mitglieder seien Studierende der Universität Leipzig, etwa ein Viertel bis ein Drittel seien auch Studierende der HTWK oder anderer Hochschulen. „Hin und wieder kommt auch mal jemand extra aus Dresden oder Chemnitz zu unseren Treffen mit dem Semesterticket angereist“, so Trippmacher.
Studium heißt Herausforderung
Ein Studium ist für junge Menschen „eine anspruchsvolle Herausforderung an die eigene Leistungsfähigkeit im Rahmen der akademischen Erwartungen“, heißt es auf der Website der Gruppe. Diese Konstellation biete Nährboden für psychische Erkrankungen, welche nicht selten mit Arbeitsstörungen einhergehen und damit den Verlauf und den erfolgreichen Abschluss eines Studiums gefährden.
Hier möchte „geist:reicht“ ansetzen: Mit dem Schwerpunktthema Arbeitsstörung vermitteln die Beteiligten einander wichtige Informationen, unterstützen sich gegenseitig und suchen nach konstruktiven Lösungen für ihre Probleme. Die Vielfalt ist dabei recht groß: „Angefangen von spezifischen Studienproblemen bis hin zu ganz persönlichen Themen ist alles möglich“, sagt Trippmacher, der die Gruppe nach wie vor ehrenamtlich mitbetreut. Derzeit seien es etwa fünf bis acht Studierende, die wöchentlich zusammenkommen.

Gemeinsam durch die Krise
Trotz der Pandemie konnte die Gruppe ihre Präsenztreffen bisher weitgehend aufrechterhalten. Das ist für die Mitglieder besonders wichtig: „Bei Online-Treffen würde effektiv sehr viel untergehen, gerade im Hinblick auf non-verbale Kommunikation von Emotionen“, erklärt Trippmacher. Im Rahmen der aktuell geltenden Corona-Schutz-Verordnung des Freistaates Sachsen gilt die Arbeit von Selbsthilfegruppen im Sinne der Krankheits- und Problembewältigung als systemrelevant und kann in kleinen Gruppen mit entsprechenden Schutzvorkehrungen stattfinden. „Allerdings werden wir im Zuge der nun deutlich ausgedehnteren ‚Weihnachtsferien‘ vorübergehend Online-Treffen anbieten.“
Laut der Deutschen Depressionshilfe haben Menschen mit Depressionen stärker unter dem Lockdown im Frühling gelitten als die Allgemeinbevölkerung. Und auch für Studierende sehen Experten Gefahren darin, dass im Lockdown die psychischen Widerstandskräfte bei einer großen Zahl von ihnen überfordert sein könnten.
Das kann auch Trippmacher bestätigen: „Neben allgemeiner Verunsicherung und mangelnder Planungsperspektive sind die eigenständige Studienmotivation und die isolatorische Distanz zu Mitstudierenden (aber auch Lehrenden) das größte Problem, was sich unter anderem auch auf die Tagesstruktur negativ auswirkt und etwa im Hinblick auf ein schwindendes Selbstwertgefühl zusätzliches Leid erzeugt.“ Aber auch sonst typische Themen wie beispielsweise Einsamkeit oder Finanzierungsprobleme seien in den Gesprächsrunden der Gruppe derzeit deutlich präsenter. Umso wichtiger, dass „geist:reicht“ seit zehn Jahren – und auch während einer Pandemie – eine Anlaufstelle für Hilfesuchende bietet: Laut Trippmacher ist der Zulauf in den letzten Monaten erkennbar gestiegen: „Die Zunahme der Anfragen im Laufe dieses Jahres liegt inzwischen bei etwa 50 Prozent mehr als noch 2019. Die tatsächliche Teilnehmerzahl bei den Gruppentreffen hingegen ist um rund 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen.“
Weitere Informationen:
http://www.geistreicht.de/
https://stura.htwk-leipzig.de/ueber-uns/hochschulgruppen/geistreicht/
Text: Sophie Goldau