Zum 23. Mal wurden am 13. Mai 2017 im Museum für Druckkunst die „Leipziger Typotage“ veranstaltet. „Schrift und Erkenntnis“ standen in diesem Jahr als zentrale Themenkomplexe und Wechselbeziehung im Vordergrund. Verschiedene Referenten sprachen vor dem Hintergrund des Reformationsjubiläums 2017 über Schrift und Typografie im Hinblick auf Historie, Wissenschaft, Technik und Gestaltungsmethodik.
Jürgen Spitzmüller, Professor für Angewandte Sprachwissenschaft, richtete seinen Vortrag auf die Wahrnehmung von Schrift, welche von kulturellen, sozialen, ideologischen und kommunikativen Kontexten abhängt, aus. Der Mensch weist Dingen abhängig von seinem Wissen, seinen Werten und seinen Einstellungen eine Bedeutung zu. Diese ändern sich jedoch kontinuierlich. Spitzmüller sprach von einer „permanenten Kontextualisierung“, welche daraus folge, dass ein Kontext durch die ständige Veränderung von Erfahrungen niemals stabil ist. Spitzmüller betonte, dass es wichtig ist, „Schrift im Kontext sozialer Praktiken zu betrachten“. Sogenannte „Kontextualisierungshinweise“ würden während einer Kommunikation – sowohl beim gesprochenen Wort als auch beim geschriebenen - ausgesondert sowie interpretiert und seien letztlich ausschlaggebend für die Wahrnehmung des Inhaltes.
Der Vortrag des freien Notengrafikers Werner J. Wolff beleuchtete das Thema „Erkenntnis und Schrift“ von einer anderen Seite. Thema waren die Musik-Notation und deren grafische Umsetzung. Das Setzen von Musik ist nicht nur wegen der vielen Zeichen ein komplexes Handwerk, allgemeine typografische Regeln können hier nicht ohne weiteres angewandt werden. Verschiedene Elemente wie Texte und Noten müssen beieinanderstehen und die Partitur für die Musiker schnell erfassbar sein. Beispiele aus der beruflichen Praxis zeigten verschiedene Gestaltungsansätze und -methoden, die alle das schnelle Lesen und Erkennen der Notation anstreben. Dabei gibt es keine ausgebildeten Spezialisten für den Notensatz. Diese anspruchsvolle Arbeit wird zumeist von Laien durchgeführt. Zuletzt wird das Setzen von Musik im Zeitalter des Computers vor völlig neue Herausforderungen gestellt. So bringt die Technik des Computers viele Chancen, aber auch zusätzliche Aufgaben mit sich. Es stellt sich die Frage, welche Erwartungen die Musikbranche an die technischen Neuerungen hat.
Der Kunsthistoriker Marcel Henry berichtete in seinem Vortrag über das Ausstellungsprojekt “Erasmus MMXVI“, welches 2016 im Historischen Museum Basel gezeigt wurde und der dafür entwickelten Schrift „Erasmus MMXVI“. Aus zahlreichen Entwürfen ausgewählt und für die Ausstellung verwendet wurde der Entwurf von Katharina Wolff. Ziel war es zum einen, eine Antiqua zu gestalten, die die von Erasmus für seine Sprichwortsammlung genutzte, in Bleilettern gesetzte, Antiqua widerspiegelt. Zum anderen sollte eine Kursive entwickelt werden, die der Handschrift des Erasmus gleicht. Überlegungen zur Entwicklung von Schrift und Erkenntnis von der Zeit des Erasmus im 16. Jahrhundert bis heute griffen das zentrale Thema der Typotage „Schrift und Erkenntnis“ auf. Elemente der Ausstellung waren nicht nur im Museum zu sehen, sondern wurden auch in den öffentlichen Raum geschrieben, wie zum Beispiel Zitate des Erasmus. So wurde mithilfe von Schrift in verschiedenen Räumen Wissen und Erkenntnis vermittelt. Zudem umfasst die Ausstellung eine Zeitung, ein Hörbuch, eine Skulptur auf dem Rhein und vieles mehr.
Auch Michael Schlierbach griff den Kontext der Schrift auf. Als Pfarrer und freiberuflicher Typograf erörterte er anhand verschiedener Bibelausgaben, welchen Einfluss die Gestaltung auf den Leseprozess und schließlich die Auseinandersetzung mit dem Inhalt hat. Unter den gezeigten Bibelausgaben waren solche, deren Briefe mit Überschriften gekennzeichnet oder zehn Gebote nummeriert waren und andere, deren Satz kontinuierlich zentriert ausgerichtet war. „Oftmals wirkt die Bibel wie ein Monumentalwerk, das uns klein macht“, so Schlierbach. Er ist der Meinung, dass die Bibel nicht überinszeniert gestaltet sein, sondern dem Leser auf Augenhöhe begegnen sollte. Die Schöpfungsgeschichte spreche schließlich für sich und sowohl Ambivalenz als auch Ambiguität müssten beim Erkenntnisprozess Platz haben. Er plädierte in seinem Vortrag „Rollen oder Schlagen?“ für eine Reformation in der Auslegung der Bibel – und sei es zum Beispiel als Papyrusrolle.
Der Schriftgestalter Tobias-David Albert beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Handschrift zwischen Normierung und Idealisierung. Zentrale Frage war es, an welchen Stellen das Schreiben mit der Hand noch nützlich ist. Albert antwortete, dass das Lehren einer kursiven Normschrift an Schulen in Frage gestellt werden müsse, da es in anderen Teilen Kontinentaleuropas kaum verbreitet sei.
Auch Lisa Neuhalfen widmete sich dem Bildungsaspekt der Schrift und gab einen Einblick in die Entwicklung von Lese- und Schreibfibeln vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur heutigen Zeit. Besonders gut erkennbar sind hier die verschiedenen Lernmethoden und Gestaltungsarten, welche in unterschiedlichen Zeitepochen verwendet wurden und heute oft vermischt, beziehungsweise nicht klar ausdifferenziert werden. Die Vorgehensweise steht dabei immer im Spannungsfeld zwischen den Vorgaben des Lehrplans auf der einen und der des Verlags auf der anderen Seite.
Tanja Diezmann schloss mit ihrer Präsentation „Type Tomorrow – Schreiben, Lesen, Verstehen im Digitalen neu Gestalten“ die Vortragsreihe ab. Die Referentin beleuchtete experimentelle Ansätze zum Umgang mit Typografie im Digitalen, indem sie studentische Projekte vorstellte, die unter ihrer Leitung an der HfK Bremen und dem Dessau Department of Design entstanden. Zentrale Aufgabe war es, grafische Varianten von digitaler Typografie zu entwerfen, welche sich von der Typografie im Printbereich unterscheiden und Dynamik und Interaktion einbinden. Den zahlreichen innovativen Möglichkeiten, die die Computertechnik bietet - wie zum Beispiel die Beschleunigung von Kommunikation - sollte Aufmerksamkeit geschenkt werden und diese im Kontext des Erkenntnisprozesses wahrgenommen werden.
Die Vorträge der Typotage 2017 behandelten den Themenkomplex „Schrift und Erkenntnis“ aus verschiedenen, interessanten Blickwinkeln. Die Referenten gaben innovative Denkanstöße, durch die jeder Teilnehmer individuelle Erkenntnis gewinnen konnte, was sich nicht zuletzt in den interessanten Diskussionen zeigte, die sich jedem Vortrag anschlossen. Nicht nur die gute Organisation, sondern auch das Rahmenprogramm am Freitag- und Samstagabend, sowie der typografische Stadtrundgang und der Letterpress-Workshop am Sonntag machten die 23. Typotage zu einem einmaligen Erlebnis.